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Alexander Berkman: 
 Ein Not- und Hilfeschrei aus russischen 
Gefängnissen
 
 Nun, da wir vor kurzem Rußland verlassen haben, fühlen wir, daß unsere ersten 
und dringendsten Worte in Sachen der politischen Gefangenen in Rußland 
gesprochen werden müssen.
 
 Es ist ein trauriger, herzzerreißender Kommentar zu der Situation in Rußland, 
wenn man von politischen Gefangenen im Lande der sozialen Revolution zu sprechen 
gezwungen ist. Aber unglücklicherweise ist das der Fall. Wir beziehen uns hier 
nicht auf Konterrevolutionäre, die, wie man wohl annehmen könnte, als Gefangene 
der Revolution in Betracht kämen. So unglaublich es auch klingen mag, und doch 
ist es Tatsache: Die Zuchthäuser und Gefängnisse Rußlands sind heute dicht 
bevölkert von den besten revolutionären Elementen des Landes. Von Männern und 
Frauen, die Anhänger der höchsten sozialen Ideale und Ziele sind. Im ganzen 
weitausgedehnten Gebiete Rußlands, sowohl in Groß- Rußland wie auch in Sibirien, 
sind die Gefängnisse des alten wie des neuen Regimes und die düsteren Verließe 
der Tscheka Ossoby Otdell, in die keine Nachricht aus der Außenwelt dringt, 
überfüllt mit Revolutionären aller Parteirichtungen und Bewegungen. Da sind 
Maximalisten, Kommunisten, Anhänger der „Arbeiter- Opposition“, Anarchisten, 
Anarcho- syndikalisten und Universalisten, Anhänger verschiedener Schulen 
sozialer Philosophie; aber alle sind sie wahre Revolutionäre, und die meisten 
waren begeisterte Teilnehmer der November- Revolution 1917.
 
 Die Lage dieser politischen Gefandenen ist bejammernswert. Ohne von ihren 
seelischen Leiden zu sprechen, ist die rein physische Seite ihrer Existenz 
unsagbar elend. Auf Grund der allgemeinen russischen Verhältnisse, wegen Mangel 
an Baumaterial und gelernter Arbeiter steht die dringendste 
Reparaturnotwendigkeit der Gefängnisse ganz außer Frage. Die hygienischen 
Verhältnisse stehen deshalb in der Mehrzahl der Fälle auf allerprimitivster 
Stufe. Aber am allerschlechtesten steht es mit den Ernährungszuständen. Während 
der ganzen Zeit ihres Bestehens ist die bolschewistische Regierung niemals fähig 
gewesen, ihre Gefangenen mit genügend Nahrungsmitteln zu versorgen. Die Rationen 
der Gefängnisinsassen entsprechen nie dem allerniedrigsten Existenzminimum. Die 
tatsächiche Verpflegung der Gefangenen wurde Freunden, Verwandten und Kameraden 
überlassen. Zur Stunde aber ist die Situation einfach unerträglich geworden. Mit 
nur 52 Proz. vereinnahmter Steuer an Nahrungsmitteln, und zwar ohne die 
Aussicht, daß man mehr einnehmen wird, mit der furchtbaren Hungersnot in den 
Wolga- Provinzen und dem allgemeinen Zusammenbruch der wirtschaftlichen 
Organisation der Regierung, ist die Lage der Gefängnisinsassen geradezu 
hoffnungslos.
 
 Das politische Rote Kreuz, eine sehr hingebungsvolle und tätige Organisation, 
von der die bekannte alte Revolutionärin Vera Figner ein aktives Mitglied ist, 
lindert die Nöte der politischen Gefangenen, soweit es ihr möglich ist. Diese 
Organisation stützt sich nur auf freiwillige Mitarbeit und ist außerordentlich 
erfolgreich in ihrer Mission gewesen. Das ist um so mehr anzuerkennen, wenn man 
bedenkt, wie schwierig es in Rußland für jedermann ist, von seinen sehr 
bedürftigen Rationen noch etwas abzugeben. Im ganzen genommen kann man sagen: 
das Politische Rote Kreuz ist fähig gewesen, die allerabsolutesten Bedürfnisse 
aller politischen Gefangenen zu befriedigen – aller: ausgenommen die der 
Anarchisten.
 
 Das politiche Rote Kreuz macht nicht etwa einen Unterschied! Nein, ganz im 
Gegenteil ist diese Organisation ganz unparteiisch, obgleich sie sehr durchsetzt 
ist mit Elementen des rechten Flügels. Aus politischen Grunden hatten die 
russischen Anarchisten schon seit langer Zeit die Politik verfolgt, selbst nach 
den Bedürfnissen ihrer gefangenen Kameraden zu sehen. Und es ist nun schon seit 
vielen Jahren die feststehende Aufgabe des anarchistischen Roten Kreuzes (später 
Schwarzes Kreuz genannt), sich der Anarchisten in russischen Gefängnissen 
anzunehmen.
 
 Das war eine Titanenarbeit für die russischen Anarchisten, die sich in Freiheit 
befanden. Viele der aktivsten Mitglieder der anarchistischen Bewegung hatten 
während der Revolution ihr Leben geopfert; eine große Anzahl war an der Front, 
in der Verteidigung der Revolution gefallen, andere von den Bolschewisten 
erschossen worden, noch andere befinden sich in deren Gefängnissen. Die meisten 
der Kameraden, die noch am Leben und in Freiheit waren, befanden sich 
fortwährend an der Grenze des Verhungerns. Das Schwarze Kreuz hatte tatsächlich 
übermenschliche Anstrengungen zu machen, um die gefangenen Genossen vor dem 
buchstäblichen Hungertod zu schützen; es hat ein selbstaufopferndes edles Werk 
vollbracht.
 
 War seine Aufgabe bisher schon hart und schwierig, so ist sie nun fast 
unerschwinglich geworden. Die neue bolschewistische Politik systematischer 
Verfolgung der Anarchisten hat sich gegenüber dem Werk des Schwarzen Kreuzes als 
furchtbares Hindernis erwiesen. Als die meisten der eigenen Mitglieder im 
Gefängnis waren, wurde die Organisation reorganisiert, und sie ist nun bekannt 
unter dem Namen: Gesellschaft zur Unterstützung der Anarchisten in russischen 
Gefängnissen. Diese Gesellschaft setzt die heroische Arbeit fort und bringt den 
gefangenen Kameraden, soweit es in den Grenzen der Möglichkeit liegt, materielle 
Hilfe. Unglücklicherweise sind aber die Möglichkeiten nach dieser Richtung hin 
sehr begrenzte. Die in Freiheit befindlichen Kameraden berauben sich sogar 
selbst wichtiger Lebensnotwendigkeiten, um den Gefangenen einige Pfund mehr Brot 
und Kartoffeln senden zu können. Sie sind fest entschlossen und redlich 
bestrebt, ihr Letztes teilen zu können. Aber sie haben so wenig! Und ihrer 
Kameraden in den Gefängnissen sind so viele !! Und die Not dieser Kameraden ist 
so groß!!!
 
 Aus den Gefängnissen in Moskau, Petrograd, aus Orel und Wladimirk, aus den 
fernen Provinzen des Ostens und von Kameraden, die verbannt sind in den eisigen 
Norden, kommen entsetzliche Nachrichten. Der Hunger, der furchtbare Tsings 
(Skorbut) frißt an ihren Leibern. Ihre Hände und Füße schwellen an, ihre Gaumen 
werden lose und die Zähne fallen ihnen aus. Die Körper zerfallen lebendigen 
Leibes.
 
 Kameraden! Eure Ohren müssen diesen Hilfeschrei hören! Die russischen 
Anarchisten sind nicht mehr fähig, auch nur die allerelementarsten Bedürfnisse 
ihrer gefangenen Kameraden zu befriedigen; sie können ihr Hilfswerk nicht 
fortsetzen, ohne daß sie Hilfe von ihren Freunden aus anderen Ländern bekommen.
 
 IM NAMEN DER GESELLSCHAFT ZUR UNTERSTÜTZUNG DER ANARCHISTEN IN RUSSISCHEN 
GEFÄNGNISSEN
 
 im Namen unserer Kameraden, die wegen ihres unerschütterlichen Festhaltens an 
ihre hohen Ideale in den bolschewistischen Kerkern leiden, erfrieren und 
verhungern, appellieren wir an Euch, Kameraden und Freunde in allen Ländern. Nur 
eure großmütige und sofortige Hilfe kann unsere in Rußland gefangen gehaltenen 
Kameraden vor dem Hungertod erretten.
 
 Mit brüderlichen Grüßen
 
 Alexander Berkman
 
 Delegierter der Gesellschaft zur Unterstützung der Anarchisten in den russischen 
Gefängnissen
 
 Emma Goldman
 
 Alexander Schapiro Sekretär der anarcho- syndikalistischen Union „Golos 
Truda“
 
 NB. Nur um Geldunterstützung wird gebeten. Auf Grund des tiefen Standes der 
russischen Valuta ist sogar die kleinste Summe, die von Amerika oder Europa von 
Freunden geschickt wird, sehr nützlich.
 
 Alle anarchistischen und syndikalistischen Organe werden gebeten, diesen Aufruf 
nachzudrucken.
 
 Stockholm, den 12. Januar 1922.
 
 HILFSFOND FÜR GEFANGENE RUSSISCHE ANARCHISTEN und ANARCHO-SYNDIKALISTEN
 
 Wir bitten, alle Gelder, die für diesen Zweck bestimmt sind, einzusenden an:
 
 Fritz Kater, Berlin 0 34, Kopernikusstraße 25 II mit dem Vermerk auf den 
Postabschnitten:
 
 „Hilfe für die gefangenen russischen Genossen“.
 
 Die Geschäftskommission wird alle Gelder an die obige Adresse übermitteln.
 
 Die Geschäftskommission der FAUD (Syndikalisten)
 
 Aus: „Der Syndikalist“, Nr. 3/1922
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